22. Februar 2002

TIBET INFORMATION NETWORK

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Nachruf auf Yulo Dawa Tsering

Geshe Yulo Dawa Tsering, der angesehene höhere Lama und ehemalige politische Gefangene, welcher eine Inspiration und Stütze für Tibeter sowohl während seiner Zeit im Gefängnis als auch nach seiner Entlassung war, starb in seiner Wohnung in Lhasa. Yulo Dawa Tsering, der schon über siebzig war, hatte nach seiner Teilnahme an dem Volksaufstand vom März 1959 in Lhasa 20 Jahre im Gefängnis verbracht. Er wurde abermals im Dezember 1987 festgenommen und verbüßte anschließend über 7 Jahre im Gefängnis, weil er in einem von einem italienischen Touristen aufgenommenen Video seine Meinung über die Lage in Tibet zum Ausdruck gebracht hatte. Schließlich wurde er 1994, mehrere Wochen vor der Ankunft des UN Sonderberichterstatters für religiöse Intoleranz, freigelassen, doch stand er bis zu seinem Tod am 17. Januar unter strenger Überwachung, was sein Leben sehr behinderte. Ein enger Freund Yulo Dawa Tserings, der noch kurz vor seinem Tod von ihm gehört hatte, sagte, er sei seit über einem Jahr krank gewesen. Ein ehemaliger tibetischer Gefangener, der zusammen mit Yulo Dawa Tsering eingesperrt war, schilderte TIN: "Sein Tod ist ein großer Verlust. Er war freundlich zu allen und sehr geduldig. Er war ein Mann von Prinzip".

Yulo Dawa Tserings Fall wurde international bekannt, als er zusammen mit seinem Freund Thubten Tsering, einem Mönch des Klosters Seras, verhaftet wurde, nachdem im Juli 1987 Dr Stefano Dallari, ein italienischer Tourist, mit einem tibetischen Exilmönch bei einem Besuch in Lhasa die beiden interviewte. Die Videoaufnahme dieses Interviews enthielt Kommentare von Yulo Dawa Tsering über Menschenrechtsverletzungen und Armut in Tibet. Yulo Dawa Tsering, der ein Tulku (reinkarnierter Lama) war und 1950 den hohen monastischen Grad eines Geshe erworben hatte, und Thubten Tsering waren beide ein Jahr lang in dem PSB-Haftzentrum der Autonomen Region Tibet (in "Sitru" oder der "Einheit No. 4") eingesperrt, ehe im Januar 1989 das Urteil über sie gefällt wurde. Wie es heißt, befanden sie sich die meiste Zeit in Einzelhaft und wurden häufig verhört. Yulo Dawa Tsering wurde zu 10 Jahren und Thubten Tsering zu 6 Jahren Haft verurteilt aufgrund des Delikts der "Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda mit ausländischen reaktionären Elementen". Radio Lhasa beschuldigte die Mönche im März 1988, "die von der CCP und der Volksregierung verfolgte Politik in bösartiger Weise diffamiert zu haben".

Yulo Dawa Tsering wurde im November 1994 "unter Vorbehalt" entlassen, im Vorfeld zum Stichtag für die Erwägung von Chinas Aufnahme in die Welthandelsorganisation (WTO) Ende Dezember 1994. Ende November stand auch der Besuch des UN Sonderberichterstatters für religiöse Intoleranz Abdelfattah Amor in Lhasa bevor. Yulo Dawa Tsering soll diesem bei seinem Besuch geklagt haben, daß religiöse Aktivität im Gefängnis verboten sei und es Mönchen und Nonnen, die aus politischen Gründe inhaftiert waren, nicht erlaubt sei, nach ihrer Entlassung wieder ins Kloster zurückzukehren. Beide Punkte fanden später in dem auf den Besuch folgenden Bericht Erwähnung.

Eine dreiköpfige Delegation des Europäischen Parlaments durfte Yulo Dawa Tsering während ihres Besuchs in Lhasa im November 1996 sprechen. Der irische Abgeordnete Bernie Malone erzählte später: "Sie [die chinesischen Offiziellen] sagten, er sei auf Bewährung entlassen worden, aber bei unserem Gespräch mit ihm erschien es, daß es keine Entlassung auf Bewährung in unserem Sinne war. Er durfte sich nicht frei bewegen, wie er wollte". Eine Bitte der UN Hochkommissarin für Menschenrechte Mary Robinson, ihn anläßlich ihres Besuches in Tibet im September 1998 sehen zu dürfen, wurde von den chinesischen Behörden abgelehnt. Im selben Jahr teilte der Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit der chinesischen Regierung seine Besorgnis über Verlautbarungen mit, wonach Yulo Dawa Tsering unter polizeilicher Überwachung stehe und man ihm nicht gestatte, in seinem Kloster Ganden zu wohnen, noch seine Vorlesungen an der Lhasa Universität wieder aufzunehmen, wo er zuvor Philosophie gelehrt hatte.

"Eine Inspiration und Stütze für andere"

Yulo Dawa Tsering war wie den Tibetern in Lhasa wohlbekannt ob seiner Geistesstärke und der praktischen und moralischen Unterstützung, die er seinen Leidensgenossen im Gefängnis und politischen Gefangenen nach deren Entlassung erwies. Nach Aussage mehrerer ehemaliger politischer Gefangene, die nun im Exil sind, pflegte er das Geld, das er für seine eigene medizinische Behandlung erhalten hatte, anderen Tibetern in Not zu geben. Ein ehemaliger Gefangener erzählte, während seiner Gefängnishaft habe Yulo Dawa Tsering Nahrungsmittelpäckchen im Badezimmer des Zellentraktes für andere Insassen liegen lassen, denen es zu der Zeit nicht gestattet war, Butter, Fleisch oder tsampa von ihren Verwandten zu bekommen. Einer seiner Freunde, der etliche seiner ehemaligen Zellengenossen kennt, schilderte TIN: "Er war eine große Inspiration für politische Gefangene, von denen einige nach ihrer Entlassung ins Exil entkamen. Viele suchten in verschiedenen Angelegenheiten seinen Rat, und wie es scheint, stand er immer zu ihrer Hilfe bereit. Wenn irgendeiner von ihnen innerhalb oder außerhalb des Gefängnisses ein Problem oder ein Gebrechen hatte, dann kamen sie zu ihm, um darüber zu sprechen".

Ein weiterer politischer Exgefangener, ein ehemaliger Mönch von Ganden, der 1993 entlassen wurde und nun im Exil lebt, erzählte TIN, wie die Gefängniswärter immer auf Yulo Dawa Tsering wiesen als Beispiel eines schlechten Häftlings, der sich nicht "reformiert" habe, womit sie sich auf seine 20 Jahre im Drapchi Gefängnis von 1959 bis 1979 anspielten, als er Zwangsarbeit auf Baustellen leisten mußte. Dieser ehemalige Gefangene erzählte TIN: "Während der Umerziehungsklassen pflegten die Offiziellen uns zu mahnen: 'Schaut nur ihn an, seit 1959 hat er seine Ansichten nicht geändert, und deshalb ist er immer noch hier im Gefängnis. Yulo Dawa Tsering wird seinen Freiheitswahn mit ins Grab nehmen'". Und anderer ehemaliger politischer Gefangener, nun in Indien, meinte TIN gegenüber: "Yulo Dawa Tserings Geist und Gesinnung waren sehr gefestigt, vielleicht durch die vielen Jahre im Gefängnis. Wenn andere gefoltert wurden, brachte dies die meisten Gefangenen völlig aus der Fassung, aber er blieb immer ruhig".

Der ehemalige politische Gefangene fuhr fort: "Sogar zu Zeiten, als es andere ältere politische Häftlinge gab, die sich in den Zellen viel ihrer religiösen Praxis widmeten, gesellte sich Yulo Dawa Tsering oft zu den jüngeren und sang und scherzte mit ihnen. Er zeigte echtes Interesse für seine Mitgefangenen; und wenn neue politische Häftlinge eingeliefert wurden, dann redete er mit ihnen, er fragte sie, woher sie kämen, warum sie verhaftet worden seien, was die Umstände ihrer Familien seien usw. Er pflegte ihnen zu danken und sagte, sie hätten sehr gute Arbeit für die Freiheit und Zukunft Tibets getan".

"Eine Zeit der Not und Finsternis"

Es scheint, Yulo Dawa Tsering verlor seine Illusionen über die Aussichten für Tibets Zukunft nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Er machte sich Sorgen über die große Zahl von chinesischen Arbeitern, die hohe Arbeitslosigkeit unter Tibetern und das Überwiegen von Chinesen in höheren staatlichen Positionen. Wie viele tibetische Intellektuelle machte er sich auch über den Rückgang bei der Verwendung der tibetischen Sprache und den immer schlechter werdenden Bildungsstandard Sorgen. Über einige dieser Dinge schrieb er vor zwei Jahren in einem Brief, der zu TIN gelangte. Darin heißt es: "Neuerdings wird das sogenannte westliche Entwicklungsprojekt betrieben. Dieses Projekt bezweckt, große Zahlen von Chinesen permanent in Gebiete umzusiedeln, die von nationalen Minderheiten bewohnt werden, die Mineralschätze auszubeuten und vor allem die Leute schwer niederdrücken, die anderer politischer Meinung sind. Den Behauptungen einer 'seltenen Gelegenheit' für die nationalen Minderheiten zuwider wird dieses Projekt eine Zeit der Not und Finsternis heraufbeschwören".

In seinem Brief erwähnte Yulo Dawa Tsering auch die Lage der politischen Gefangenen in Drapchi, besonders nach den Gefängnisprotesten vom Mai 1998, die zum Tod von mindestens 9 Häftlingen führten: "Die Lebensumstände für unzulänglich sein. Seit dem 4. Mai 1998 stehen sie unter ständiger Bewachung und Beobachtung. Sie dürfen keinerlei Bücher oder Zeitungen haben und erst recht nicht fernsehen oder Radio hören. Wenn ein politischer Häftling auch nur ein paar Gebete rezitiert, nehmen die Aufseher sich ihn gezielt vor und schlagen ihn. Wegen dieser Unterdrückung büßten viele politische Häftlinge ihr Leben ein, sei es im Gefängnis oder außerhalb. Viele sind zu Krüppeln geworden oder nun körperlich behindert. Politische Gefangene, die nach Ableistung ihrer Strafe entlassen wurden und nun eigentlich frei in der Gemeinschaft leben sollten, unterliegen generell weiterhin strenger Überwachung durch das Sicherheitsbüro ihres Ortes. Ihre Bewegungsfreiheit ist drastisch eingeschränkt, und es ist ihnen verboten, ohne vorherige Genehmigung der Regierungsbehörden irgend einer Arbeit nachzugehen oder zu verreisen".

Einer der ehemaligen Drapchi Gefangenen berichtete TIN: "Es scheint, daß Kushog [ehrwürdiger Herr] Yulo immer sehr positiv dachte, solange er Ende der 80er Jahre im Gefängnis war, als die politischen Demonstrationen stattfanden - damals pflegte er zu sagen, die Chinesen würden bald ihre Politik in Tibet andern und die Freiheit sei nicht fern. Aber nach seiner Entlassung dachte er wohl realistischer über die Lage. Nun meinte er, Freiheit für Tibet sei zwar möglich, aber durchaus nicht leicht zu erlangen". Der ehemalige Mönch von Ganden fuhr fort: "Er war sehr enttäuscht, als er sah, daß sich niemand mehr um die politischen Gefangenen kümmert, wie es Ende der 80er und Anfang der 90er der Fall war. Er empfand immer große Verantwortung für ehemalige politische Gefangene in Lhasa, besonders für die Ganden Mönche, die bei einer Demonstration [am Barkor] im März 1988 seine Entlassung gefordert hatten".

Mit Yulo Dawa Tserings Gesundheit ging es schon seit einigen Jahren bergab. Einem TIN im vergangenen Jahr zugegangenen Bericht zufolge hatte er Probleme beim Gehen und konnte daher nicht mehr die kora (den Pilgerweg) um den Barkor ausführen. Ein Freund von ihm, der nun im Exil lebt, sagte TIN, in seinen letzten Lebensjahren habe er auch unter Depressionen gelitten: "Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde er oft zu Verhören abgeholt und immer wieder für kurze Zeit in Gewahrsam genommen. Er hatte keinen Augenblick Frieden, und das bis zum Tag, an dem er starb".

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